M. Suter: Die Thur und das untere Thurtal in den Kantonen Zürich und Thurgau

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Titel
Die Thur und das untere Thurtal in den Kantonen Zürich und Thurgau. Die Geschichte von den Anfängen bis zur Gegenwart


Autor(en)
Meinrad, Suter
Erschienen
Zürich 2022: Basilicata University Press - BUP
Anzahl Seiten
604 S.
von
Markus Schär

Das «Land, das der Thurstrom sich windend durchfliesst», preist das Thurgauer Volk in seiner bei Festen aller Art obligaten Kantonshymne. Was das Thurgauer Lied von 1842 lobt, galt allerdings im 20. Jahrhundert nicht mehr: Der Fluss durchquerte den Kanton ohne Windungen, in einen geraden Kanal mit Blocksteinverbauungen gezwängt. Und wenn er als Wildwasser daraus ausbrach, sorgte er nicht für Heimatlyrik, sondern für Katastrophenalarm. In den kommenden dreissig Jahren soll das Projekt Thur+ für 300 Millionen Franken den Fluss wieder zum identitätsstiftenden Faktor für den Kanton machen – in einer umstrittenen Güterabwägung zwischen Renaturierung, Agrarinteressen und Katastrophenschutz.

Dieser Prozess ist im Kanton Zürich, auf den letzten fünf Kilometern vor der Mündung in den Rhein, bereits abgeschlossen. Das Projekt «Hochwasserschutz und Auenlandschaft Thurmündung» lief von 1999 bis 2017 und kostete rund 40 Millionen Franken; es gilt national als aufwendigstes und international als vorbildliches Vorhaben dieser Art. Zum Abschluss gab die Zürcher Baudirektion dem Historiker Meinrad Suter den Auftrag, die Geschichte des ganzen unteren Thurtals «von den Anfängen bis zur Gegenwart » zu schreiben – leider offenbar ohne erkenntnisleitende Fragestellung. Nach acht Jahren Arbeit liegt sie in einem schwergewichtigen, reich bebilderten Band vor.

Warum die Menschen seit jeher mit der Thur kämpfen, kann der Historiker nur erklären, indem er mit der Geologie anfängt. Bis vor fünf Millionen Jahren entstanden die Ostschweizer Höhenzüge vom Alpstein bis zum Randen und auf ihrer Nordseite eine Hochebene aus Schwemmmaterial, die sich in Richtung Donau entwässerte. Vor rund 500’000 Jahren, zwischen den älteren und den jüngeren Eiszeiten, drehte der Rhein aber nach Westen und bildete den Bodensee. Darin mündete auch die obere Thur; erst nach der letzten Eiszeit, vor etwa 15’000 Jahren, brach sie durch den Felsriegel bei Bischofszell und floss nach Westen in den Schmelzwassersee, der sich noch vor 4000 Jahren von Weinfelden bis Andelfingen erstreckte. Das heisst: Der heute 135 Kilometer lange Fluss, der im Toggenburg am Säntis entspringt, wird nirgends gebändigt; bei starken Niederschlägen im Alpstein schwillt er innert weniger Stunden bedrohlich an.

Wie die Thur das Leben im unteren Teil ihres Tales prägte, stellt der Autor in einer weit ausholenden «histoire totale» dar. Er zeigt das Thurtal als Grenzland, das bei den Römern kaum besiedelt am Limes und zwischen den Provinzen Gallia Belgica und Raetia lag, wovon das Kastell Ad Fines (Pfyn) zeugt. Die Alemannen gründeten im 6. Jahrhundert Siedlungen in vor Überflutung sicheren Lagen, wie die Ortsnamen von Andelfingen über Erchingen (Frauenfeld) bis Wigoltingen verraten. Erst im klimatisch günstigen Hochmittelalter mit seinem Bevölkerungsdruck wagten sich Bauern in die weite Talebene und auch ins Niemandsland östlich der Thur. Und im Spätmittelalter bildete der Fluss die Grenze zwischen den Interessensphären der Städte Winterthur, Schaffhausen, Wil und Konstanz, was sich in den Massen und den Münzen zeigte und bis ins 20. Jahrhundert in den Dialekten hörbar blieb.

Von der Landwirtschaft im Mittelalter über die Konfessionskämpfe nach der Reformation bis zur Industrialisierung samt Verkehrserschliessung seit dem 19. Jahrhundert behebt der fleissige Autor so auch Defizite der Thurgauer Kantonshistoriografie – ironischerweise bezahlt von den Nachfahren der Zürcher Vögte, die in den Schlössern von Frauenfeld und Weinfelden sassen. Am meisten lernen lässt sich aus dem Werk aber zum Kampf mit dem Fluss, gerade auch für das anstehende Jahrhundertprojekt.

Schon 1305 musste die österreichische Herrschaft einem Weiler im Thurtal einen Teil der Steuern erlassen «wegen der Gebresten, die die Thur getan hat an den Äckern». Und danach ziehen sich die Berichte durch die Jahrhunderte, was das bis zu zweihundert Meter breite Wildwasser anrichtete: Es riss Höfe, Mühlen und vor allem Brücken weg, manchmal mehrfach innert weniger Jahre. Es frass sich in das Weideland, teils über Gemeindegrenzen hinweg. Und es stürzte die Menschen wegen der Überschwemmungen in Hunger und Not. Das führte zu steten Konflikten zwischen den Herrschaften und den Gemeinden, einerseits darum, wem das Land nach der Umgestaltung durch den Fluss zustand, anderseits darum, wer den nächsten Katastrophen vorbeugte. Dafür gab es nur das Wuhren, also das Verbauen mit Lebendholz wie Weiden, meist im Winter im Wasser stehend. So liess der Zürcher Obervogt 1768/69 vor Weinfelden ein 540 Meter langes, acht Meter breites und fünf Meter hohes Bollwerk bauen – wenige Monate später wurde es vom nächsten Hochwasser zerstört. Nur diese ein Jahrtausend währenden Mühen, stellt der Autor aber abschliessend fest, hätten das Thurtal zum heute begehrten Bauernland gemacht.

Noch im 19. und im 20. Jahrhundert liess sich der Fluss kaum bändigen. Zwar begann 1867 im Thurgau und 1876 in Zürich die «rationelle Korrektion»: der Versuch, das Wildwasser nicht mit Wuhren von einer Gemeinde zur nächsten zu lenken, sondern den Fluss dank Ingenieurwissen in ein begradigtes, zunehmend befestigtes Bett zu zwängen. Die Zürcher verstanden dies als Aufgabe des Staates, die Thurgauer überliessen die Arbeit weiter den Anstössern und verzichteten anfangs sogar auf Bundesgelder. Während Zürich die Thurkorrektion 1908 für abgeschlossen erklärte, zerstörte der Fluss aber im Thurgau immer wieder die aufwendigen Bauten. So machte er noch 1965 und 1978 das Thurtal zum bis zu zehn Kilometer langen See.

Erst in den letzten Jahrzehnten blieben die katastrophalen Hochwasser aus – in der Zeit also, in der die Klimahistoriker eine beschleunigte Erwärmung erkennen. Der führende Schweizer Forscher, Christian Pfister, spricht von einer «Katastrophenlücke» im warmen 20. Jahrhundert und warnt dennoch vor mehr Extremereignissen aufgrund des Temperaturanstiegs. Ist also die Thur ein Beispiel für diese «Katastrophenlücke»? Auf diese Frage lässt sich Meinrad Suter leider nicht ein. Sein in vielerlei Hinsicht enzyklopädisches Werk böte aber reiches Material für die Klimahistoriker.

Zitierweise:
Schär, Markus: Rezension zu: Suter, Meinrad: Die Thur und das untere Thurtal in den Kantonen Zürich und Thurgau – Die Geschichte von den Anfängen bis zur Gegenwart, Zürich 2022. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 73(2), 2023, S. 204-206. Online: <https://doi.org/10.24894/2296-6013.00127>.

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